Farbe, Linie, Konstruktion. Aus diesen elementaren Gestaltungsmitteln erschafft Günter Walter seine Arbeiten. Diese sind pure Materie, sie haben keine andere Bedeutung als sich selbst, und als solche gehören sie der Konkreten Kunst an. Nichts in diesen Bildern verweist auf Dinge der sichtbaren Welt, vielmehr kommt in ihnen Sichtbares überhaupt erst zustande. Das Sichtbare und das Sehen – beide Begriffe gehören unweigerlich zusammen. Geht es beim Sichtbaren um die Physikalität der Materie, ist beim Sehen der Wahrnehmungsakt zentral – der freilich auch physikalischen Prinzipien gehorcht. In diesem oszillierenden Zwischenraum lässt sich die Kunst von Günter Walter ansiedeln: Als Untersuchung der Materialität der Farbe, und als Erkundung ihrer sinnlichen Wirkung.
Was also ist Farbe? Und was passiert mit den Farben, wenn sie auf unser Auge treffen? Der Künstler arbeitet konsequent an dieser Fragestellung, dabei ist sein hauptsächliches Medium die Zeichnung. In seinen Werkreihen untersucht er in kleinen Schritten das ganze Farbspektrum; phasenweise entstehen Zeichnungen ausschließlich in Grautönen. Doch ob bunt oder grau: zutage gefördert werden subtile Differenzierungen. Der ausgeprägte Sinn für Strukturen und Farbnuancen begleitet Günter Walter auch im Alltag. Es können scheinbar banale Dinge auf der Straße sein, die en passant seinen Blick bannen. Das Liniengerüst, das der Schatten eines Balkongeländers in den Raum wirft. Oder die Farben des Lichts auf der feucht-glänzenden Metalloberfläche eines Kanaldeckels, auf den die Sonne scheint. Solche Momente lassen sich weder festhalten noch abbilden. Der Künstler hat mit seinen Farbstiften ein anderes Ziel: In seinem Atelier will er dem Erlebnis nahe kommen. Am Anfang des Arbeitsprozesses steht die Studie. In dieser Phase der Analyse werden die Farben festgelegt, ihr Zusammenwirken wird auf der Fläche untersucht, ebenso werden die Maße und der Rhythmus, die Intervalle also, definiert. Jede neue Untersuchung ist ein Experiment, denn erst nach der Ausführung zeigt sich, ob das Konzept aufgeht oder nicht. Auf diese Weise entstehen Reihen kleiner Formate; daraus greift der Künstler einzelne Zeichnungen heraus und überträgt die Konstruktionsprinzipien in einen größeren Maßstab.
Die Horizontale und die Vertikale bilden die Grundlage seiner Kompositionen. Die mit dem Stift gezogenen Linien überziehen in mehr oder weniger dichten Abständen das weiße Papier; in anderen Werkreihen wird die gesamte Bildfläche mit schmalen Farbstreifen ausgefüllt. Daraus entstehen farbliche Nachbarschaften, ebenso ein Strukturnetz mit vielfältigen Korrespondenzen. Die Bildspannung wird durch das Zulassen von Sprüngen erzeugt: durch den unregelmäßigen Rhythmus der Farbanordnung, die Variation der Linienlängen – durch Ungleichgewichtungen also. Da jede Linie mit der Hand gezogen wird, zeigen die Striche kleine Unregelmäßigkeiten auf; ihr Auf- und Abschwellen, heller und dunkler werdend, das alles verleiht den Bildern einen lebendigen Charakter. Jedes Bild ist, wenn auch dezent, Ausdruck einer subjektiven Geste.
Unser Auge nimmt diese Werke in erster Linie als vibrierendes Raster wahr: als ein changierendes, manchmal sogar flirrendes Feld aus Vernetzungen und Verflechtungen. Denn was in den Bildern an Farbe zutage tritt, verweist zugleich auf die Variabilität und Relativität des Sehens. Sehen ist immer ein prozessualer Akt: Unsere Augen vollziehen mit hoher Frequenz unmerkliche Bewegungen. Die lichtempfindlichen Zellen auf unserer Netzhaut – die Stäbchen und Zapfen – leiten die Informationen an das Gehirn weiter; gleichzeitig produzieren sie Phantombilder, mit denen sich das aktuell Sichtbare stets überlagert.
Die Farbe, diese konstante Energie, kann niemals hundertprozentig definiert werden; sie zeigt ihre Ambivalenz nicht nur mit jedem Wechsel des Lichts, sondern ebenso im Verhältnis zu ihrer jeweiligen farblichen Umgebung. „Nur der Schein trügt nicht“, hat Joseph Albers einmal gesagt. Günter Walter bezieht sich ganz bewusst auf den Pionier Albers, denn dieser hat das Prinzip der Wechselwirkung der Farben nicht nur in seiner Kunst, sondern auch theoretisch ausführlich dargelegt. Da wäre die Räumlichkeit der Farbe. Wie sorgt sie auf der zweidimensionalen Farbfläche für Raumillusion? Denn manche Farben scheinen unter oder über andere zu liegen, manche erscheinen näher, andere entfernter ... werden diese Farbqualitäten bewusst als Kompositionsmittel eingesetzt, kommt es im Bild zu Hebungen und Senkungen, die Struktur wird gewissermaßen verräumlicht. Da wären die Farbeffekte. Wie werden diese produziert? Warum entstehen Farbtäuschungen? Wesentlich dafür ist die Verschmelzung von zwei gleichzeitig gesehenen Farben im Auge, der sogenannte Bezold-Effekt – aus wenigen Farben können so subjektiv unzählige Tönungen und Farbwerte entstehen. Und diese Interaktion, die Durchdringung der Farben, findet darüber hinaus auch rein physikalisch statt, denn jede Farbe hat nicht nur eine Oberflächenfarbe, sondern sie strahlt zusätzlich als Filmfarbe dünn, klar und durchschein end auf ihre Umgebung aus.
Ebenso fußt die Arbeit von Günter Walter auf die Theorie der „Sieben Farbkontraste“ des Bauhaus-Lehrers Johannes Itten. Speziell interessiert sich Walter für den Komplementärkontrast: für den subjektiv erlebten Kontrast zwischen zwei Komplementärfarben, die sich gegenseitig in ihrer Leuchtkraft verstärken. Auch der Simultankontrast spielt eine große Rolle, das heißt die Wechselwirkung von nebeneinanderliegenden Farbflächen, die zu einer Steigerung der Farbintensität führt. Simultankontrast heißt er, weil wir beim Betrachten einer Farbe immer gleichzeitig, also simultan, die komplementäre Ergänzung mit wahrnehmen; diese strahlt auf die Ausgangsfarbe zurück und modifiziert unsere Wahrnehmung derselben. Besonders stark treten Simultankontraste auf, wenn nicht genau komplementäre Farben gewählt werden, sondern solche, die nach Ittens Farbkreis genau daneben liegen, das heißt wenn zum Beispiel Rot nicht Grün, sondern Gelbgrün oder Blaugrün gegenübergestellt wird.
Die einleuchtendsten Einsichten hierzu liefert die sinnliche Erfahrung. Die Kunst von Günter Walter macht diese Erfahrung explizit möglich. Wenn wir seine Bilder betrachten, werden wir regelrecht auf unsere Wahrnehmung zurückgeworfen, auf den unabschließbaren Prozess des Sehens, auf das Ineinandergreifen von Sehen und Bewegung. Ein Beispiel: In der Zeichnung „Gelb, Rot, Blau und Grün“ (Abb. 14) treten die drei Grundfarben Rot, Blau und Gelb und die Komplementärfarbe Grün in Interaktion. Die eng gezogenen, horizontalen Farblinien teilen mittels eines austarierten Farbrhythmus die Bildfläche in neun Rechtecke auf. Im mittleren Bereich verdichtet sich das Farbfeld, die Linien der rechten und linken Hälfte nehmen abwechselnd zwei Drittel der Bildfläche ein, der Linienabstand wird in diesem Bereich halbiert. Nichts als Linien also: Auf den ersten Blick nehmen wir die Zeichnung als eine schillernde Farbfläche wahr, die durch die unterschiedliche Strahlkraft und Farbintensität der Rechtecke strukturiert wird. Zwischen den Linien auf dem weißen Papier entsteht vor unseren Augen ein zartbuntes Feld; je mehr wir vom Bild zurücktreten, desto stärker diffundiert dieser Farbhauch in den Hintergrund. Doch wenn wir die Zeichnung aus der Nähe betrachten, können wir deutlich sehen, dass jedes Rechteck seinen eigenen Rhythmus hat – und dass es das Sehen auf jeweils individuelle Weise herausfordert. Im Rechteck links oben sind die Grundfarben im Wechsel Gelb – Rot – Blau – Blau – Rot – Gelb angeordnet. Während Blau und Rot als Linien erkennbar bleiben, wirkt das Gelb aufgelöst; seine Strahlkraft tritt aus dem Bild heraus, sie verschafft sich Raum. Der Gelbton wirkt wärmer als derjenige im unteren linken Rechteck, der im Rhythmus Gelb – Gelb – Grün – Blau – Grün gestaltet wurde, obwohl es sich um die gleiche Farbe handelt. Betrachten wir diese gelben Farbstreifen eine Weile eingehend, scheinen sie uns grünlich durchsetzt. Je länger wir das Bild anschauen, desto weniger können wir Oberflächenfarbe und Filmfarbe von den Kontrastwirkungen unterscheiden, die wir, so zwangsläufig wie unbewusst, produzieren. Beim näheren Betrachten wirkt jedes Feld jedes Mal anders – je nachdem, woher unser Blick kommt. Und was passiert, wenn wir das Bild als Ganzes erfassen wollen? Wenn wir es eine Weile fixieren, indem wir darauf starren, verblassen die Farben, das Bild löst sich immer mehr auf und beginnt zu flimmern, droht gar zu verschwinden: Eine Reaktion unseres Sehorgans auf die Strahlungsintensität der Farben, die durch die Linienstruktur noch verstärkt wird. Setzen wir unsere Augen wieder in Bewegung, erscheint das Bild wieder vor unseren Augen – und wir können es wieder betrachten, in seiner ganzen farblichen Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit.
Die Kunst von Günter Walter konzentriert sich auf das Phänomen Farbe mit aller Intensität. Diese Kunst kommt unaufgeregt daher, und erregt dabei doch auf subtile Weise unsere Sinne. Und sie hat auch eine meditative Komponente: Seine Bilder transportieren die im Zen propagierte Form der Gegenwartserfahrung, die Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick im Handeln, Fühlen, Denken und Empfinden. Vor seinen Bildern kann man Ruhe finden, indem man sich der schieren Farbe ausliefert. Es ist eine Ruhe in der Bewegung, denn es gibt keinen Stillstand, sondern nur das Werden.