Diese Worte stammen nicht von mir und beziehen sich zunächst einmal auch nicht auf Günter Walter, für den ich heute diese Einführung sprechen möchte. Doch die These wird uns heute Abend begleiten und wir werden entdecken, dass sie uns die Augen für Walters Arbeiten öffnen können.
Das Zitat stammt aus Henry van de Veldes Essay „Die Linie“ aus dem Jahr 1910. Wer über die Linie redet und wer mit ihr arbeitet, der verweist häufig auf diesen Text des belgischen Alleskünstlers: Maler, Kunstgewerbler, Baukünstler. Auch Eugen Gomringer tat dies bereits vor 10 Jahren. Den Bezug zu Henry van de Velde stelle ich allerdings nicht her, um mein kunsthistorisches Wissen zu beweisen. Van de Velde und Gomringer spielen für mich persönlich eine wichtige Rolle und führen mich in meiner eigenen Biographie über Weimar, nach Ingolstadt und heute hier zu Ihnen ins MUWA nach Graz.
An der Bauhaus-Universität in Weimar verbrachte ich die Zeit meines Studiums und meiner Dissertation und befand mich damit an der Nachfolgeinstitution der einstigen Kunstgewerbeschule von eben diesem Henry van de Velde. Zu den Hochschulgebäuden zählen bis heute zwei, die er einst errichtete. Er wird dem Jugendstil zugeordnet, den man mit seinen Blumendekoren als etwas Überladenes, Phantastisches und Dekoratives verbindet. Betrachtet man allerdings die Bauten in Weimar, dann bleibt ein Staunen. Für damalige Verhältnisse waren sie geradezu nüchtern. Sie werden bis auf wenige Ausnahmen von nur einem Element verziert: der Linie.
Die Linie emanzipierte sich bei Van de Velde von den Aufgaben eine Umrandung oder Begrenzung zu sein. Im bisherigen Hilfsmittel wurde selbst ästhetisches Potenzial erkannt. „Die Linie ist eine Kraft“, so Van der Velde, nicht aber ohne seine eigene Rolle als Künstler zu unterstreichen: „Sie entlehnt ihre Kraft der Energie dessen, der sie gezogen hat.“ Die Linie sollte mir an meinem ersten Tag in Weimar begegnen und für mich bis heute eine wichtige Rolle spielen. Inzwischen habe ich längst erkannt, dass sie mehr als etwas Dekoratives ist. Sie ist von Bedeutung für jene Richtung von Kunst, für die ich heute hier stehe.
Aus der Vereinigung der Kunstgewerbeschule Van de Veldes mit der ebenso dort ansässigen Kunsthochschule ging 1919 das Bauhaus hervor. Auch dort setzte man sich wie bei Paul Klee mit der Linie auseinander. Neben ihm waren Walter Gropius, Wassily Kandinsky, Johannes Itten oder Lyonel Feininger Meister der Schule. Einem wurde dieser Lehrauftrag nicht zugewiesen, obwohl er zur gleichen Zeit auch in Weimar weilte: Theo van Doesburg. Er wird im Kontext dieses Abends eine wichtige Rolle spielen. Nur wenige Jahre später, 1930, prägte er in einem Manifest den Namen einer Kunstrichtung: Konkrete Kunst.
Das Bauhaus, der Russische Konstruktivismus und die DeStijl Richtung gelten als Vorläufer dieser ungegenständlichen Kunst, die eine nicht sichtbare Welt abbildet. Ihre Elemente abstrahieren von nichts. Sie sind nicht abstrakt, sondern konkret gemeint und so spielt neben Farben, Formen und Materialien speziell die Linie eine besondere Rolle. Eugen Gomringer, der Van de Velde zuerst in der Auseinandersetzung mit Günter Walter ins Spiel brachte, gilt als Vater der Konkreten Poesie, der sprachlichen Richtung der Konkreten Kunst. Eugen Gomringer kannte viele Vertreter der Züricher Konkreten der 1930er, als die Konkrete Kunst vor allem noch eine streng mathematische war. Er baute sich eine Sammlung von Gemälden u. a. von Richard Paul Lohse oder Max Bill auf. Vor 25 Jahren wurde diese Sammlung von der Stadt Ingolstadt angekauft und damit das Fundament des Museums für Konkrete Kunst gelegt. Seit 2014 bin ich hier beschäftigt, seit 2016 die Kuratorin am Haus. Als genau diese wurde ich eingeladen, heute hier zu sprechen. Über Henry van de Velde in Weimar, zu Eugen Gomringer in Ingolstadt führt mein Weg also heute zu Ihnen nach Graz, zu Ihnen Günter Walter. Ob Sie wollen oder nicht, der Konkreten Kunst werden Ihre Arbeiten häufig zugeordnet. Das habe ich in den Gesprächen mit Ihnen gemerkt, Sie sträuben sich ein bisschen. Sie möchten nicht „in diese Schublade“ gepresst werden.
Betrachtet man die Haltung der Züricher Konkreten, die diese Kunstrichtung als etwas sahen, was rein mathematisch und rational begründet liegt und nichts Unbewusstes oder Subjektives zulässt, so kann ich diesen Widerwillen gut verstehen. Aber es gibt allen Grund sich hier zu entspannen. Das Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt hat mit seiner Direktorin Frau Dr. Simone Schimpf ein Team, welches die Grenzen der Konkreten Kunst längst nicht mehr so eng zieht. Der Begriff der Konkreten Kunst hat für uns nichts Statisches, Eindimensionales. Da ist Platz für Gegensätze und Entwicklung, auch für Subjektives. Da ist Platz für Günter Walter.
Was wir in der Ausstellung „Parallelen“ im Museum der Wahrnehmung sehen, sind Zeichnungen aus vier Bleistift- und vier Buntstiftserien. Dieser Titel hat mein Interesse geweckt. Der Begriff der Parallele kommt aus dem Griechischen und bedeutet „nebeneinander befindlich“. Er ist in verschiedenen Feldern im Einsatz. Zum Ersten bezeichnet die Parallele in der Geometrie zwei Geraden, die in einer Ebene liegen, sich allerdings nirgends schneiden, sondern eben parallel zueinander stehen. Zum Zweiten bezeichnet eine Parallele eine Ähnlichkeit, sei es von einem Verhalten oder einem Sachverhalt. Zum Dritten gibt es die Parallele in der Musik. Damit wird entweder beschrieben, dass zwei Stimmen eine melodische Bewegung in gleichbleibenden Intervallen ausführen oder es bedeutet das harmonische Verwandtschaftsverhältnis zwischen Akkorden oder Tonarten. Geometrische Beziehungen, Ähnlichkeiten, Musik – auch wenn es zunächst abwegig klingt, all das steht in Beziehung mit den Werken Günter Walters. Gerne möchte ich Ihnen das ausführen. Am Begriff der „Parallelen“ ist besonders, dass er sowohl den Prozess als auch das Ergebnis dieser Werke beschreibt – Werke voll aus Linien.
Günter Walter zieht Linien. Günter Walter kreiert keine Formen. Günter Walter schafft keine Umrisszeichnungen. Günter Walter zieht Linien. Die Linie steht für sich selbst. Sie hat sich emanzipiert. Sie ist zum autonomen Gestaltungsmittel geworden. Formen entstehen, doch sie sind ihm nicht wichtig, sie sind das Resultat seines Konzepts, eines Linien-Konzepts. Walter zieht seine Linien parallel. Er nimmt das Lineal als Hilfsmittel, um Genauigkeit zu erlangen. Die Linie hat für ihn etwas Objektives. Er geht geplant vor, fertigt zunächst Entwürfe und nur die, die ihn überzeugen, führt er in fertigen Zeichnungen aus.
Manche Zeichnungen basieren auf horizontaler Ausrichtung, manche auf vertikaler. In jedem Fall liegt den ausgeführten Parallelen eine geordnete Geometrie zu Grunde. Doch ob horizontal oder vertikal: Linie um Linie, kann so etwas Geplantes interessant sein? Und ob, denn hier greift die zweite Bedeutungsschicht des Begriffs der Parallelen. Die Parallelen von Walter sind nicht gleich, sie sind ähnlich und die teils nur minimalen Abweichungen erzeugen die Spannungen in den Bildern.
Wo es Ähnlichkeiten gibt, da existieren auch Unterschiede. Diese Unterschiede resultieren aus der Hand Günter Walters selbst. Erinnern wir uns an Henry van de Velde: „Die Linie ist eine Kraft – sie entlehnt ihre Kraft der Energie dessen, der sie gezogen hat.“ Derjenige, der hier Linien zieht, das ist Günter Walter. Arbeitet er mit dem Lineal, so ist es doch noch immer kein Computer, sondern seine Hand, die die Parallelen schafft. Mit ihr kann keine 100%ige Gleichmäßigkeit erzeugt werden – und Günter Walter will es auch nicht. Seine Arbeiten leben zum einen vom objektiven Charakter der Linie, zum anderen durch die kleinen Störungen. Das ist nicht nur eine Folge der Technik, sondern auch des persönlichen Befindens des Künstlers. Auch dies schleicht sich in den Prozess ein und führt zum subjektiven Charakter der Arbeiten. Walter liebt das Spiel mit den Widersprüchlichkeiten: subjektiv – objektiv. Lassen sie sich in den Bleistiftarbeiten aufspüren, dann gilt dies wohl noch viel mehr in seinen Werken gezeichnet mit Buntstift.
Gerade die Farbe hat für den Künstler etwas Subjektives. Nichtsdestotrotz geht er auch hier ganz geplant vor. Walter kümmert sich in seinen Entwürfen zunächst um die Farbigkeit. Er experimentiert so lange, lässt teilweise den Zufall entscheiden, bis er den Klang gefunden hat, mit dem er weiterarbeiten will. Und mit dem Klang sind wir bei der dritten Bedeutungsebene der Parallele. Wir sind bei der Musik. Dort hat die Parallele etwas mit melodischen Abständen oder mit einem harmonischen Verhältnis zu tun. Auch das sind wiederum Aspekte, die man in den Werken von Walter wahrnehmen kann.
Tatsächlich sieht der Künstler seine Arbeiten ganz in der Nähe der Musik. Er erzählte mir, seine vielen Skizzen münden am Ende in einer Zeichnung. Dieser Vorgang erinnert, so sagte er, der Arbeit an einer Partitur. Bei einer Partitur handelt es sich um eine Notation mehrstimmiger Musik. Einzelstimmen sowie ihre Koordination lassen sich an ihr überblicken. Auch eine Partitur basiert auf Linien: auf Notenlinien. Sie stellen das Gerüst dar, auf dem die Töne in Rhythmen angeordnet sind. Jede Zeile wird von einem anderen Instrument des Ensembles gespielt. Jede steht für sich, doch macht sie erst Sinn in einem Zusammenspiel. Von Bedeutung ist weniger der einzelne Ton, sondern der Gesamtklang. Töne und Klangfarben, es gibt sie in der Musik und in der Kunst. Dass das Vokabular beider Richtungen einander derart gleicht, halte ich für keinen Zufall. Und ich bin sicher, dass tut auch Günter Walter nicht. Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen seinen Zeichnungen oder einer Partitur: Sie sind anspruchsvoll. Für den, der sie erstellt und den, der sie betrachtet. Eine Partitur aufzusetzen, erfordert meisterhaftes Geschick. Um zu ihr zu gelangen, wird vieles probiert, vieles verworfen. Etwa weil die Stimmen doch nicht harmonieren oder weil die erzeugten Spannungen nicht überzeugend genug sind. Die Genialität desjenigen, der eine Partitur schreibt, steckt vor allem in seinem Vorstellungsvermögen. Er vermag es, zu imaginieren, welchen Gesamtklang seine Aufzeichnungen beim Spielen ergeben. Das ist für den Betrachter weitaus schwieriger. Für den, der sie zu lesen vermag, bietet sie nach konzentriertem Betrachten Orientierung. Wer nicht über musikalisch-theoretisches Vorwissen verfügt, für den stellen die Blätter wohl nur ein Gewimmel von Punkten an Strichen auf Linien dar. Die Partitur ist etwas, auf das sich der Betrachter einlassen muss.
Exakt das verlangt Günter Walter auch vom Betrachter seiner Werke. Er wünscht sich, dass er sich Zeit nimmt und Geduld aufbringt. Er wünscht sich, dass er die Bilder ansieht, wie er Musik hören würde. Auch sie kann man nicht rasch erfassen. Aber wenn man sich einnehmen lässt von der Kunst, dann löst sie etwas aus. Dann ergibt sich wie bei der Partitur eine Nah- wie Fernwirkung. Von Nahem kann er sich die Details jeder einzelnen Linie und Linienführung erschließen. Es zeigen sich, ähnlich wie in der Musik, die Stimmungen des Künstlers und auch die kleinen Unregelmäßigkeiten der Linie.
Betrachtet er das Werk aus der Ferne, dann zeigt sich das große Ganze, das Besondere des Gesamtbildes. Da erkennt man kaum noch den einzelnen Strich, da offenbaren sich stattdessen farbige Felder. Selbst Bleistiftarbeiten wirken aus der Ferne farbig! Nah wie fern, beides hat also seinen Reiz. Für beides braucht man Zeit!
So schön der Vergleich ist: Partitur und Zeichnung lassen sich aber nicht vollkommen gleichsetzen. Um den Klang der Partitur zu erleben, braucht es das Ensemble oder Orchester. Für den Farbklang der Bilder ist solche Übersetzungsleistung nicht vonnöten. Die fertigen Zeichnungen kann der Betrachter direkt erleben. Und ich spreche nicht aus Versehen vom Erlebnis. Denn erst dieses setzt ihre ganze Kraft der Linie frei, von der Henry van der Velde gesprochen hat. Ob man nun ein Musikstück von der CD hört oder die Bilder Günter Walters auf einer Fotografie sieht: Nie kommt ein solcher Kontakt nur annähernd an die Kraft heran, die sich freisetzt, wenn man selbst zugegen ist. Da nützt keine Reproduktion etwas. Da braucht es direkte Anwesenheit.