Würden die Kritiker mancher Konstruktiver Konzepte diese nicht immer wieder summarisch als Spätlinge der Moderne oder der Avantgarde disqualifizieren und dafür differenzierter in der Gegenwart sehen, was sich im Felde dieser Konzepte immer wieder erneuert, würden manche Werke originärer Zeitgenossenschaft in der Öffentlichkeit veränderten Kategorien entsprechend beachtet werden. Es lässt sich zum Beispiel – um eine bekannte Thematik als knappes Resume zu wiederholen – seit dem Jugendstilmeister Henry van de Velde und seinem Essay „Die Linie“ von 1910 eine immer wieder aufgegriffene Auseinandersetzung zur Interpretation des Liniencharakters verfolgen. War die Linie für van de Velde im Lauf ihrer Geschichte vorwiegend kulturelles Symbol, fand sie ein Jahrzehnt später in den Übungen von Paul Klee am Bauhaus ihre organisch-biologische Bedeutung. Es versteht sich, dass mit der Linie, diesem wichtigsten Gestaltungsmittel schon jederzeit – abgesehen von Theorienbedeutende Werke geschaffen worden sind, wobei im Sinne der Konstruktiv-Konkreten Kunst die Linie nicht nur als Umrandung und Begrenzung eingesetzt wurde, sondern sich im Rahmen eines Gesamtkonzepts verselbständigte. Schon van de Velde sprach am Ende seiner Übersicht respektvoll von der Konstruktionslinie. Klee mit einem gänzlich unterschiedlichen Ansatz ging von der Individualität und der Dividualität von Strecken, von der rhythmischen Repetition, von der Gliederung und dem Strukturwechsel aus. Er gab damit ein Verfahren der Differenzierung vor, das bekanntlich auch Meisterwerken diente.
Überdies erarbeitete Klee gleichzeitig auch Richtlinien für die Bewertung der Farbe. Im Bereich der Konstruktiven Konzepte bilden Werke, die ausschließlich auf der Konstruktionslinie aufgebaut sind, genauer auf der Geraden und der Strecke, eine nur sporadisch anzutreffende Disziplin. Werke, wo mit kurzen gestrichelten Linien, einer Art Schraffur, Bänder und Flächen erzielt werden, sind in der hier vorgeschlagenen Betrachtung mit Ausnahme des Frühwerks auszuschließen. Der Künstler Günter Walter engt das Repertoire der verbleibenden Konstruktionslinien noch um eine weitere Kategorie ein, indem er sich auf die gerade Farblinie konzentriert und diese mit dem Farbstift erzeugt. Es fallt sofort ins Auge, dass sich auf diese Weise ein exaktes Mittel und ein nur annäherungsweise exakt zu nennendes Mittel, die Farbe bzw. der Farbstift, in der Farblinie verbinden. Nicht ganz überflüssigerweise ist auch festzuhalten, dass Günter Walter die Farblinien von Hand zieht, wobei er nach der chronologischen Entwicklung im jüngeren Werk das Lineal benützt.
Schon diese wenigen Feststellungen lassen erkennen, dass der Künstler eine exakte Kunst mit eigenster persönlicher Diszipliniertheit schafft. Dass die Linien, ob länger oder kürzer, als Strecken mit der Hand gezogen werden – heute geradezu entgegen aller digital gebotenen Möglichkeiten – mag vielen oberflächlichen Kunstbetrachtern als altmodisch erscheinen – die Empfängnis für den Sinn solcher Kunst, die Verbindung von Auge, Hand und geistiger Konzentration kann dann selbstverständlich nicht in Rechnung gestellt werden. Es ist eine analoge Kunstübung, über deren Wert als vollmenschliche Tätigkeit man sich leicht einigen kann.
Günter Walter begann mit der Linie, die von freier Hand gezogen wird. Er erarbeitete aus sanften Schraffuren Farbbänder und quadratische Flächen, die jedoch nicht der Herstellung solcher Formen, sondern der Bewertung der Farbqualität dienten. Dieses Vorgehen kommt einer Vorprüfung der sich in der dünnen Farblinie auswirkenden Qualität gleich. Dadurch kann bewertet werden, was Paul Klee in seinen Aufgabenstellungen als Dreischritt für die Farbe analysierte: die Qualität der Farbe, ihr Gewicht und ihre Maßeigenschaft, letztere verstanden als Grenze, Umfang und Ausdehnung. Immer wieder ist erkennbar, wie der Künstler von schraffierten Flächen sozusagen Auszüge vornimmt, um damit Farblinien zu gestalten. Schraffuren dienen deshalb ganz klar nicht der Quantität der Farblinien, sondern der Qualität.
Günter Walter behält in der Farbe den Überblick von einem bis zu 32 Farbstiften. Damit lassen sich nun feine Geraden mit einem Duktus ziehen, den man nicht anders als leise nennen kann. Sie stehen aber nie allein auf der Fläche, sondern es ist der Sinn dieser Kunstübung, sie zu meist eng geführten Parallelen zu vereinigen. Es entstehen somit ,,Bänder“ entweder in der einen gleichen Farbe oder ebensolche in gemischten Farben, wozu mit den Schraffuren oft die Farbwerte der komplementären Farben bestimmt werden. Eine einzige Farblinie, sanft durchgezogen, ist eine wunderbare Kunstlinie. Es gibt Künstler, die es oft bei zwei oder drei solcher Linien auf einem Blatt beruhen lassen. Dazu gehört dann meist der abnehmende Druck, mit dem die Linie ausläuft. Für Günter Walter setzt mit der Farblinie bzw. mit den Farblinienscharen eine andere Vorstellung ein, die Vorstellung konkreter Gestaltung. Für den Künstler der Konkreten Kunst ruft die Fläche nach Teilung, Bildplan, Ordnung, Kombination. Die Farbstiftlinie kommt der konkreten Gestaltung sehr entgegen – es gibt nur die reine, ungemischte Farblinie. Wenn jedoch mit Farbfamilien moduliert werden soll, lässt sich das durch nebeneinanderliegende Gruppen gleicher Farblinien erreichen. Daraus ergibt sich ein je nach Plan offeneres oder dichteres Gewebe, verursacht gleichsam durch Schuss und Kette. Dabei hat es der Künstler „in der Hand“, unterschiedliche Wahrnehmungsakte paralleler Farblinien zu beeinflussen, z.B. durch additive Farbmischungen.
Der Fülle qualitativer Farbwerte und ihrer Kombinationen steht die Möglichkeit, die der „lineare Maßstab mit seinen verschiedenen Längen“ setzt, keineswegs nach. Die Konstruktionslinie der Konkreten Kunst ist die Strecke, mit welcher der Gliederungscharakter gegeben ist. Sie ist Maß der Quantität im Ordnungsgefüge: einfache Strecke, doppelte Strecke usw. Dem Künstler bieten sich also mit den verschiedensten Streckenlängen in Verbindung mit den verschiedensten Farben eine Fülle kombinatorischer Konzepte, wobei die Themen und Systeme andererseits die Farben und die Längen der Strecken bestimmen. Als ein Modul erweisen sich die vier farbigen Quadratseiten innerhalb großer quadratischer Anlagen, die z.B. aus 6 × 6 oder 12 × 12 Quadraten bestehen. Man wird durch solche rhythmischen Folgen von Mengen an die Farbquadrate von Richard Paul Lohse erinnert, wobei der Unterschied zwischen den transparenten Linienqudraten von Günter Walter und den Farbflächen des Malers selbstverständlich evident ist. 1m Fall der Linienquadrate folgt der Betrachter mit dem Auge den Positionen der einzelnen Farbstrecken und stellt die Struktur fest, die sich einem generellen Überblick zu entziehen scheint. Es muss einer umfangreicheren Darstellung überlassen werden, ähnlich wie sie für das Werk von einigen Konkreten Künstlern der strengen Planung besteht, die thematische Ordnung struktureller Möglichkeiten darzustellen. Abgesehen von struktureller Ähnlichkeit fällt bei den Farblinienstrukturen auf, dass sich dank der feinen Führung der Linien unerhört subtile Gebilde entwickeln lassen.
Auch wenn Günter Walter Wert legt auf den durchwegs gleichartigen Druck auf den Farbstift, wirken seine Konstruktionen dennoch gefühlt und mit subjektiver Identität. Dies ersetzt vermutlich die enge Berührung der Farben, wie sie bei Flächen möglich ist, und damit die „Interaktion der Farben“, deren Beobachtung sich bekanntlich seit Josef Albers’ Testverfahren eingebürgert hat. Dafür stehen den Farbstiftzeichnungen die Bildung von Farbzonen durch Farbfolgen und Farbmischungen sowie der kaum ausschöpfbaren optischen Effekte zu Dienste. Günter Walter hat zu diesem Kapitel der Konkreten Kunst bereits eine breite Grundlage an Konzepten geschaffen.